Der Reisende – U. A. Boschwitz

Wir schreiben das Jahr 1938: Bereits seit geraumer Zeit kursieren Gerüchte; willkürliche Verhaftungen, unschuldige Menschen, die verhaftet werden. Jeder kann ein Nazi sein, praktisch jeder einzelne könnte ihn nun verraten. Der Portier, die Nachbarn, seine Freunde – Wer ist in Zeiten wie diesen denn überhaupt noch Freund und wer Feind? Gibt es in Zeiten wie diesen überhaupt noch Menschen, die er als Freunde bezeichnen könnte? – jeder, der ihn auf der Straße erkennt, jeder einzelne könnte verraten, dass Otto Silbermann ein Jude ist, auch, wenn man ihm dies nicht auf den ersten Blick ansieht.

„Was war ich? Nein, was bin ich? Was bin ich eigentlich? Ein Schimpfwort auf zwei Beinen, dem man es nicht ansieht, dass es eina Schimpfwort ist! Ich habe keine Rechte mehr, nur aus Anstand oder aus Gewohnheit tun viele so, als hätte ich noch welche.“

 

Auf Ottos Sohn, der bereits nach Frankreich geflüchtet ist, ist kein Verlass, zu lange dauert es schon; zu lange warten Otto und seine Frau vergeblich auf die Aufenthaltsgenehmigungen, die der Sohn besorgen soll – zu lange Zeit hoffen und warten sie schon. Zeit, die Otto Silbermann nicht mehr bleibt, denn immer mehr jüdische Verwandte und Bekannte werden verhaftet – ohne Vorwarnung, ohne Grund, ohne zu wissen, was nun mit ihnen geschieht.1530033183665.jpeg
Und als plötzlich die Beamten auch vor Ottos Türe stehen, bleibt dem einst angesehenen Kaufmann nichts anderes übrig als zu flüchten und alles, was er besitzt, hinter sich zu lassen. Mit einem Teil seines Vermögens, den er noch retten kann, macht er sich auf – ohne Ziel; denn nur so kann Otto noch sicher sein. Und so begleitet man Otto Silberstein als Leser/ Hörer  auf eine Reise, bei der zuerst noch nicht einmal ganz klar ist, wohin sie führen wird…

 

Wenn man bedenkt, dass diesem Roman ein Typoskript zugunde liegt, welches bereits im November 1938 vom damals 23-jährigen Ulrich Alexander Boschwitz verfasst wurde, wird umso deutlicher, wie stark die Realität hierbei in den Roman eingeflossen ist und wie authentisch die Schilderungen sind. Besonders bestürzend waren für mich immer wieder die Begegnungen Otto Silbersteins mit anderen Menschen – Passagieren, Hotelangestellten, dem Personal in der Bahn; Gespräche, die er führt, Äußerungen, die er aufschnappt – und stets präsent dabei: die Unsicherheiten und Ängste Silbersteins.

Schon im Jahr 1938, als der Roman verfasst wurde, muss offensichtlich gewesen sein, worauf der Nationalsozialismus hinaus
laufen wird, denn viel zu deutlich sind der Verdacht und die Anzeichen dafür; – Keine Spur davon, dass man nicht gewusst hätte, was der Nationalsozialismus mit den Juden vorhat…
Auch noch – oder vor allem – jetzt,  80 Jahre nachdem „Der Reisende“  verfasst wurde, beeindruckt und bestürzt jene Geschichte über Otto Silberstein zugleich. Ein unglaublich authentisches Zeitdokumentwie ein Paket, das von der Post achtzig Jahre lang vergessen wurde“ (so schreibt die F.A.Z.), das in jeder Hinsicht zu empfehlen ist.

Noch etwas hierbei zum Medium Hörbuch:
(Alle 6 CD´s belaufen sich insgesamt auf eine Dauer von rund 7 Stunden und 30 Minuten – Torben Kessler liest also das gesamte Buch, ohne jegliche Kürzungen.)
Für mich war es – nach Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß – erst das zweite Mal, dass ich das Hörbuch als Medium ausprobiert hatte. Und vermutlich lage es natürlich mitunter auch an Torben Kesslers wirklich sehr angenehmer Leseweise sowie Stimme, dass ich von diesem Hörbuch vollkommen mitgrissen wurde. Ich würde dieses Buch wirklich auf jeden Fall als Hörbuch empfehlen, denn durch die sehr fließende, dynamische Sprache, eignet sich „Der Reisende“ besonders gut, um zur Abwechslung einmal gehört anstatt gelesen zu werden.

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